- keltische Kunst: Abstraktion und Vieldeutigkeit - Die künstlerische Sprache der La-Tène-Kultur
- keltische Kunst: Abstraktion und Vieldeutigkeit - Die künstlerische Sprache der La-Tène-KulturWährend das Studium griechischer, römischer oder auch mittelalterlicher Kunst im Abendland auf eine mehrhundertjährige Geschichte zurückblicken kann, liegen die Anfänge der Erforschung keltischer Kunst nur wenige Generationen zurück. Dies kann kaum überraschen, wenn man sich erinnert, dass die Geschichte der mitteleuropäischen Eisenzeit ja erst mit den Fortschritten der modernen Archäologie gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts Konturen anzunehmen begann. Auch ist zu bedenken, dass die Kelten Stilelemente der klassischen Antike oft in so eigenwilliger Weise abwandelten, dass die am klassischen Vorbild geschulten Betrachter in ihren Werken lange Zeit nur ästhetisch unbefriedigende Nachahmungen ohne selbstständigen Wert sahen. In dieser Sicht bestärkte sie noch die Tendenz der Griechen und Römer, alle fremden Kulturen ohne Rücksicht auf ihr eigenes Selbstverständnis mit den Maßstäben der klassischen Antike zu beurteilen. Gleichwohl sollte ein klassischer Archäologe, Paul Jacobsthal, als erster die künstlerische Selbstständigkeit der Kelten aufzeigen und kritisch würdigen. 1944 im englischen Exil erschienen, ist seine monumentale Darstellung »Early Celtic Art« bis heute grundlegend für unser Verständnis keltischen Kunstschaffens in der 2. Hälfte des 1. Jahrtausends v. Chr.Charakteristisch für die keltische Kunst ist das weitgehende Fehlen von Ausdrucksmitteln, die sowohl in der mittelalterlichen als auch in der griechisch-römischen oder altorientalischen Kunst eine große Rolle spielen. So gibt es zum Beispiel keine monumentale Steinarchitektur und nur unbedeutende Ansätze zu einer menschlichen Großplastik. Auch die Möglichkeiten der szenischen Darstellung von Handlungs- und Bewegungsabläufen blieben weitgehend ungenutzt. So sind die Werke der keltischen Kunst zum überwiegenden Teil Erzeugnisse einer handwerklichen Kleinkunst, die Schmuck, Waffen und Gebrauchsgegenstände aller Art mit großer Liebe zum Detail und technischer Perfektion zu gestalten verstand. Dabei bedienten sich die Künstler vor allem einer ausgefeilten Ornamentik, die sich durch Abstraktion und Vieldeutigkeit auszeichnet. Nicht selten können einzelne Muster sowohl positiv als auch negativ »gelesen« werden, sodass geradezu der Eindruck eines Vexierbilds entsteht.Im Unterschied zu den starren geometrischen Mustern der späten Hallstattkultur bevorzugt die frühe La-Tène-Kultur (5./4. Jahrhundert v. Chr.) weiche, fließende Formen, wobei häufig pflanzliche Motive sowie Darstellungen von Tieren, Fabelwesen und menschlichen Gesichtern in die Ornamentik einbezogen werden. Der Ursprung dieser Neuerungen ist vermutlich außerhalb der alten Machtzentren des westlichen Hallstattkreises vor allem im linksrheinischen Raum (Rheinpfalz, Lothringen, Champagne und Hunsrück-Eifel-Gebiet) zu suchen. Die Anregungen dazu entstammen in erster Linie der griechischen und etruskischen Kunst, doch hat man auch auf den möglichen Einfluss östlicher Nomadenvölker wie etwa der Skythen hingewiesen. Namengebend für die zweite Phase der keltischen Kunst (4./3. Jahrhundert v. Chr.) ist das 1869 entdeckte Grab von Waldalgesheim bei Bingen. Der Ranken- oder Waldalgesheimstil zeichnet sich gegenüber älteren Arbeiten durch verschlungene Wellenranken und Spiralen aus, während der Späte oder Plastische Stil (3.-1. Jahrhundert v. Chr.) vor allem durch seine stark abstrahierende dreidimensionale Ornamentik auffällt.Sehr wahrscheinlich waren weite Bereiche der keltischen Kunst von magischen oder religiösen Vorstellungen geprägt. Dafür spricht die immer wiederkehrende Dreizahl, die noch in den irischen und walisischen Literaturwerken des Mittelalters eine große Rolle spielt. Vielen bildlichen Darstellungen maß man vermutlich eine apotropäische (abwehrende) Wirkung bei, die den Besitzer des betreffenden Gegenstands vor Schaden bewahren sollte. Bislang ist es jedoch noch nicht gelungen, auf diesem schwierigen Gebiet überzeugende Querverbindungen zwischen der achäologischen und der sehr viel jüngeren literarischen Überlieferung herzustellen und so die Symbolsprache der keltischen Kunst zu entschlüsseln.Auf dem europäischen Festland endet die Geschichte der keltischen Kunst mit der römischen Eroberung Galliens um die Mitte des 1. Jahrhunderts v. Chr. Nur einzelne Stilelemente wurden in der provinzialrömischen Kunst der Kaiserzeit hier und da wieder aufgegriffen. Dagegen erlebte die keltische Kunst auf den Britischen Inseln nach der Zeitenwende noch einmal eine späte Blüte. In Verbindung mit Stilelementen der germanischen Kunst der Völkerwanderungszeit erreichte sie in der mittelalterlichen irischen Buchmalerei, in Metallarbeiten und monumentaler Steinskulptur einen letzten Höhepunkt.Dr. Bernhard MaierBirkhan, Helmut: Kelten. Versuch einer Gesamtdarstellung ihrer Kultur. Wien 1997.Duval, Paul-Marie: Die Kelten. Aus dem Französischen. München 1978.Lessing, Erich und Kruta, Venceslas: Die Kelten. Entwicklung und Geschichte einer europäischen Kultur in Bildern. Freiburg im Breisgau 1979.Spindler, Konrad: Die frühen Kelten. Stuttgart 21991.
Universal-Lexikon. 2012.